
Tunesien heute
Ein Interview mit der rhz Reiseleiterin Niina Tanskanen
Unsere Reiseleiterin Niina Tanskanen ist seit ihrer Jugend fasziniert von der arabischen Welt. Zu ihren Lieblingsdestinationen in dieser gehört Tunesien. Sie beschreibt Tunesien als ein vielseitiges Land mit einer reichen Geschichte und Kultur, das weit mehr zu bieten hat als nur Strände und Tourismus. Obwohl das Land nach dem Arabischen Frühling politisch turbulent war, empfindet Niina die Bevölkerung als aufgeschlossen und diskussionsfreudig gegenüber europäischen Besuchern. Als Frau hat sie besonderen Zugang zu Frauenbereichen der Gesellschaft. Niina empfiehlt Tunesien als Reiseziel für alle, die an Architektur, Archäologie, Sozialwissenschaften, Kultur und Natur interessiert sind, da das Land eine Vielzahl an faszinierenden Facetten bietet. Im Gespräch mit Urs Gösken (UG), ebenfalls Reiseleiter für rhz, spricht mit Niina Tanskanen (NT) über ihre besondere Beziehung zu diesem Land und seinen Menschen.
UG: Niina Tanskanen, herzlich willkommen zu diesem Gespräch. Du bist ja in vielen Bereichen unterwegs, geografisch und fachlich, so auch als Reiseleiterin für Reisehochschule Zürich für verschiedene Destinationen in der islamischen Welt. Ich weiss, weil ich ja auch islamwissenschaftlich unterwegs bin, dass man da mit einem gewissen Virus infiziert wird. Bei mir hat das angefangen in meiner Jugend, als ich mich für arabische Sprache interessierte. Was waren bei dir die ersten Symptome und wann hat das angefangen bei dir?
NT: Vielen Dank, Ja, das war bei mir ganz ähnlich. Ich glaube, ich war so etwa 13 Jahre alt, als ich mich bei der Lektüre über Algerien mit dem Virus angesteckt hatte und mich dann für die ganze Region zu interessieren begann. Ich habe dann angefangen, jeden Zeitungsartikel darüber aufzuheben. Damals gab es ja die sozialen Medien und solche Sachen noch nicht. So legte ich ganze Sammlungen von Zeitungsartikeln an. Sobald ich dann von der Existenz eines Faches Islamwissenschaft erfuhr, stand früh für mich fest, dass ich das studieren möchte.

UG: Das wäre dann ein ähnlicher fachlicher und persönlicher Werdegang wie meiner. Wie hat die spezielle Beziehung zu Tunesien angefangen? Da bist du ja gerade in diesem Jahr für uns dort sehr engagiert.
NT: Genau. Ja, also, ich bin schon während dem Studium nach Tunesien gegangen und habe dort in Tunis an der Bourguiba School von der Universität Zürich aus einen Arabisch-Sprachaufenthalt absolviert und mich in dieser Zeit dann völlig in Land und Leute verliebt. In den folgenden Jahren bin ich dann die ganze Zeit hin und her gependelt und habe in Tunesien gewohnt.
Das war erst noch unter dem damaligen Präsidenten Ben Ali, also noch vor dem Arabischen Frühling. Während dem Arabischen Frühling war ich dann auch in Tunesien und danach ebenfalls. Es hat sich ja auch vieles getan in den letzten Jahrzehnten in Tunesien. Wegen meiner regelmässigen Aufenthalte lernte ich dann auch den dortigen Dialekt. Die arabischen Länder haben ja alle ihre eigenen arabischen Dialekte, die ja nicht unbedingt gegenseitig verständlich sind, aber der tunesische ist der Dialekt geworden, den ich fliessend spreche.
UG: Ich möchte vielleicht noch etwas bei diesem Punkt bleiben: In der Schweiz kennt man Tunesien entweder als sogenanntes Problemland, weil viele Migranten von dort herkommen, oder als Land des Vergnügens, einfach weil es dort tolle Strände gibt. Du hast da natürlich ganz andere Einblicke: Wie erlebst du den Wandel seit deiner Zeit am Bourgiba-Institut und danach in der tunesischen Gesellschaft?
NT: Das ist ein guter Punkt, den du da ansprichst. Ich finde es eigentlich sehr schade, wie klischeehaft Tunesien wahrgenommen wird, weil es in den Medien meist gar nicht klar wird, wie vielseitig das Land ist. Zum einen ist Tunesien ja weniger als zwei Flugstunden von der Schweiz entfernt. Von der Schweiz aus in meine Heimat Finnland brauche ich mit dem Flugzeug länger als nach Tunesien. Und dann ist es ein Land, in dem so viele Kulturen zusammenkommen – wie überhaupt im Mittelmeerraum, aber in Tunesien dann noch mehr. Es ist auch ein sehr kleines Land verglichen zu den anderen Ländern der Region. Es ist sehr gut bereisbar von Nord nach Süd, weil die Distanzen nicht riesig sind.
Und doch verbindet man seit den 70er Jahren Tunesien meistens mit Badetourismus. Man hört immer von Hammamet oder Djerba, aber nicht, dass da so viele Ausgrabungsstätten etwa aus punischer und römischer Zeit vorhanden sind. Schliesslich ist Tunesien natürlich interessant für mich als Islamwissenschaftlerin, weil auch grosse und kulturell bedeutende Stätten aus der islamischen Zeit vorhanden sind wie z.B. Kairouan, dann der Süden mit der Lehmbauarchitektur und der Berber- oder Amazigh-Kultur.
Auch im Reisebereich hat sich im Jahrzehnt seit dem arabischen Frühling viel getan. Während dem arabischen Frühling und in den folgenden Jahren waren eher wenig Leute in Tunesien unterwegs. Aber auch wenn wir auf die politischen oder die sozialen und kulturellen Entwicklungen im Land selber schauen, ist viel in Bewegung geraten. Schon die Reformen vor dem arabischen Frühling sind in Tunesien sehr interessant. So ist Tunesien z.B. das Vorreiterland in der islamischen Welt, das schon in den 50er- Jahren Polygamie oder Polygynie verboten hat, also sehr fortschrittlich in Frauenrechten. Es lohnt sich also, diese interessanten Aspekte des Landes zu entdecken.

UG: Wie ist denn jetzt so die Stimmung in der tunesischen Bevölkerung nach all dem vielen, was da passiert ist, also arabischer Frühling, dann erste Ernüchterung, dann weitere Ernüchterung und jetzt wieder ein eher autoritäres Präsidialsystem? Wie fühlen sich die Tunesierinnen und Tunesier mit all dem?
NT: Ich spüre jedes Mal wieder sehr gerne den Puls bei Bekannten und Freunden und der ganzen Bevölkerung. Gerade vor zwei Wochen bin ich aus Tunesien zurückgekommen. Die Leute sind, glaube ich, jetzt ein bisschen ernüchtert. Die grosse Ernüchterung verstärkte sich nach den turbulenten Jahren, besonders angesichts der Sicherheitsprobleme, die es in den ersten Jahren nach dem Arabischen Frühling gab. Nun aber ist die Sicherheit sehr hoch, gerade auf dem Land. Ich habe das Gefühl, dass die Lage jetzt etwa gleich sicher ist wie früher unter Ben Ali, also vor dem arabischen Frühling.
Die Leute sind natürlich enttäuscht, weil halt doch nicht so viel Entwicklung oder demokratische Freiheiten eingetreten sind, wie anfangs erhofft. Aber nachdem jetzt wieder Sicherheit und ein funktionierendes System eingekehrt sind, habe ich das Gefühl, dass die Menschen jetzt wieder zufriedener sind mit der Lage. Nicht unbedingt mit dem Präsidenten, den sie haben – sie stehen auch der Beschneidung von gewissen politischen Freiheiten wie Meinungsfreiheit kritisch gegenüber. Aber grundsätzlich schätzen sie es, dass wieder ein gewisses Mass an Sicherheit, Stabilität und eine funktionierende Wirtschaft vorhanden sind.
UG: Du bist ja von deinen Schwerpunkten her und auch deiner persönlichen Erfahrung mit dem Land und seinen Menschen prädestiniert, da hineinzuschauen. Ein wichtiger Aspekt bei deinen Reisen ist der Einblick in die Alltagskultur Tunesiens. Warum ist dir gerade auch dieser Aspekt an dem Land so wichtig?
NT: Ich finde das schön, wenn man die Möglichkeit hat, Kontakte und Begegnungen zu schaffen auf der Reise. Das fällt mir natürlich leicht, weil ich auch über die Sprache den Zugang habe. Auf der Reise habe ich verschiedene Treffen geplant, so etwa ein gemeinsames Kochen tunesischer Gerichte mit einer Köchin, in einen mystischen Orden hineinzusehen, mit einem Sufi-Meister zu sprechen, der vom Alltag des Sufi- Ordens erzählt, und ähnliches mehr. Es liegt mir sehr daran, solche Erfahrungen in die Reise einzubeziehen, zusammen mit den historischen und sozialen Hintergründen. Dann fällt es auch leichter, Informationen und Erlebnisse einzuordnen. Denn ich finde die Tunesier ein sehr interessantes Volk. Sie sind sehr humorvoll und auch sehr schlagfertig und machen gerne Witze – auch über Politik. Sie sind auch ein sehr kreatives Volk.
UG: Denkst du, dass du, weil du eine Frau bist, dann auch noch andere Facetten der Alltagskultur kennenlernen kannst, in die jetzt vielleicht ein männlicher Reiseleiter nicht hineinschauen könnte und in die man ihn nicht hineinschauen lassen würde?
NT: Ja, ich glaube schon, dass ich als Frau gewisse Zugänge habe, die ich als Mann nicht hätte, gerade in familiären Umgebungen usw. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass die tunesische Bevölkerung relativ offen ist, also nicht stark nach Gender segregiert. Frauen gehen auch meist unverhüllt umher, und Tunesierinnen und Tunesier gehen auch mit männlichen Gästen sehr offen um.

UG: Also ist Tunesien für Frauen ein sicheres Reiseland – können sich Frauen etwa am Nachmittag allein in der Stadt umschauen?
NT: Das ist in Tunesien problemlos möglich, für Tunesierinnen genau wie für ausländische Frauen. Was die Tunesierinnen angeht, so sind sie im öffentlichen Leben ohnehin sehr präsent: Sie machen Karriere, sie sind überall in der Gesellschaft vertreten.
UG: Das klingt sehr ermutigend. Das macht die tunesische Gesellschaft ja auch sehr spannend, die prominente Rolle von Frauen in der Arbeitswelt, in der Familie, in der Gesellschaft überhaupt. Jetzt vielleicht weiten wir ein bisschen den Horizont: Du bist ja auch noch in anderen Ländern der islamischen Welt, sowohl privat als auch für Reisehochschule Zürich unterwegs, zum Beispiel in Zentralasien, in Usbekistan und in Oman und Marokko. Verglichen mit jenen anderen Ländern, was macht für dich persönlich und auch für dich als Reiseleiterin die besondere Faszination von Tunesien aus?
NT: Ausser in Tunesien bin ich in Nordafrika oft in Marokko unterwegs. Und diese beiden Länder haben etwa hinsichtlich Berberkultur sicher Gemeinsamkeiten – und gemeinsame Probleme, so etwa die Frage, wie die Berbersprachen weiterleben können. In diesem Punkt sind grosse lokale Unterschiede zwischen Algerien, Tunesien und Marokko erkennbar. Tunesien hat den besonderen Reiz, dass es auf kleinem Raum eine grosse Vielfalt bietet. So lernt man verschiedene Klima- und Vegetationszonen kennen – von mediterran im Norden, Steppe im Landesinneren bis Wüste im Süden.
UG: Wie begegnen denn Tunesier, Tunesierinnen, europäischen Kulturtouristen, zum Beispiel einer Reisegruppe, wie du sie führst? Sind die aufgeschlossen, diskussionsfreudig oder eher reserviert?
NT: Sehr aufgeschlossen! Es gab ja den Witz nach dem Arabischen Frühling, ein paar Wochen, nachdem der ehemalige Präsident aus dem Land geflohen war, dass es in Tunesien nun plötzlich 10 Millionen Politikwissenschaftler – die damalige Bevölkerungszahl – gebe, weil jeder seine Meinung hat, jeder sich einbringen möchte und sich als Spezialist versteht. Und diese Erfahrung mache ich auch immer wieder auf der Reiseleitung. Also wenn wir gewisse Sehenswürdigkeiten irgendwo in einer Altstadt anschauen, da kommen sehr gerne Leute dazu und erklären dann auch noch etwas. Also sie sind sehr aufgeschlossen, sehr interessiert, alle möchten irgendwo beitragen und Teil davon sein.
Tunesien ist ja aufgrund der geographischen Nähe zu Europa und seiner Lage im Mittelmeerraum seit Jahrtausenden an Reisende aus Europa gewohnt. Es gibt umgekehrt viele Tunesier, die im Ausland wohnen. So wird man sehr freundlich, sehr gastfreundlich, sehr aufgeschlossen empfangen, und die meisten Tunesier freuen sich sehr, sofort in ein Gespräch zu kommen. Das ist natürlich auch sehr einladend für uns. Man wird nicht von 20 Händlern überfallen, wenn man einen Markt betritt.
UG: Vielleicht noch eine Frage zum Abschluss. Nehmen wir mal an, Tunesien wäre ein Buch, ein Buch mit vielen Seiten, und wir würden nun einen Lesetipp abgeben. Welcher Art von Mensch würdest du eine Kulturreise, eine Studienreise nach Tunesien empfehlen?
NT: Oh, das ist eine schwierige Frage, denn ich glaube, Tunesien hat wirklich so viele Facetten, dass da für jedermann etwas zu finden ist, ganz gleich, für was man sich im besonderen interessiert, sei es Architektur, Archäologie, vorislamische Zeit, islamische Kunst, Literatur, Kulinarik usw. Es ist ein Land für kulturell interessierte Leute. Auch das tunesische Essen finde ich fantastisch. Ich glaube, da findet sich tatsächlich für jedermann irgend etwas, also eine Seite oder ein ganzes Kapitel je nach Interessengebiet.
UG: Ja, dann hoffe ich, dass sehr viele Reisende diese vielen Facetten mit dir kennenlernen wollen. Ich selbst bin jetzt verlockt worden, mich anzuschliessen. Niina, vielen, vielen Dank für dieses sehr interessante Gespräch über Tunesien, Reisen in Tunesien und Gesellschaft und gesellschaftliche Hintergründe in Tunesien. Alles Gute und gute Reise!
NT: Gern geschehen.
